Theatergruppe der WALI

„Was ist das, was in uns lügt, mordet und stiehlt?“
Georg Büchner
„Auch dem, der einen Nagel wieder aus der Wand zieht, bleibt doch das Loch.“
Peter Brückner
„Ich glaube, dass der Künstler nicht viel mehr machen kann, als etwas sichtbar zu machen, das schon existiert.“
Adriano Sofri

Seit über 20 Jahren arbeitet eine Gruppe von Teilnehmenden jedes Jahr in der WALI an einem neuen Theaterstück. Manchmal erarbeiten wir uns die Textgrundlage unser Schauspielarbeit komplett selbst (um ehrlich zu sein, hat dann immer unser Regisseur Erich Schaffner den „Löwenanteil“ der Arbeit geleistet), gelegentlich übernehmen wir ein schon fertiges Stück und bearbeiten es noch.

Viele unserer Darstellenden stürzen sich das erste Mal in das Abenteuer des Schauspielens. Spurlos gehen dann die Auseinandersetzungen und die Diskussionen über Kultur und Kunst an keinem von uns vorbei. Alle Beteiligten sammeln Erfahrungen von Dingen, die sie vorher noch nicht gekannt haben.

Manche kennen einige Stücke aus der Schule, haben schon einmal Goethe oder Büchner gelesen. Es macht aber was mit den Beteiligten, die Texte auch zu sprechen und in einen szenischen Zusammenhang zu stellen.

Kulturelle Erfahrungen sind mäandernde Prozesse mit ungewissem Ausgang, die sich nicht begradigen, beschleunigen, modularisieren oder auf eine andere Formel bringen lassen. Gelegentlich stellt sich so etwas wie Erkenntnisglück ein.

Alle Beteiligten – wirklich alle – kennen diese unbekannte Gefühl nach der Aufführung. Gleichzeitig nehmen wir ganz viel an neune Erkenntnissen mit.

Es ist wichtig zu begreifen, welche Bedeutung wir Schauspielenden bei der Vermittlung von Inhalten und Denkweisen haben, die wir auf die Bühne bringen. Personen, denen man anmerkt, dass ihnen die Vermittlung von Zusammenhängen im produktiven und freien Spiel, Spaß macht.

Das Spiel könnte man eine Form des produktives Lernen nennen, welches oft einen Moment der Faszination, der persönlichen Übertragung enthält. Man ist am stärksten motiviert, wenn aus diffusen Informationen plötzlich strukturierte Zusammenhänge entstehen, wenn der Groschen fällt, etwas Zusammenhangloses zum Knotenpunkt einer neuen Erkenntnis wird. Und vom Publikum erkennbar erkannt wird.

Trotzdem gilt, Kunst und Kultur sind keine Dinge von Kausalitäten, keine erzieherisch menschheitsveredelnden Wunderlampen. Kultur hat die Kraft, große Wirkungen zu erzielen, ohne dies zu wissen. Wüsste sie es, drohte sie, diese Kraft einzubüßen.

Es zeigt sich bei vielen Kulturprojekten, dass ihre erstaunliche Wirkung oft nur ein Nebenprodukt ist. Die Erfahrung, dass jemand an einen glaubt, kann dazu führen, dass jemand wieder an sich selbst glaubt. Diese Erfahrungen können auf andere Lebensgelände ausstrahlen und so das ganze Leben verändern.

Wer Interesse hat, einfach mal mitzumachen und – vielleicht – überraschendes zu erleben, meldet sich einfach bei der WALI und schaut bei unseren Proben vorbei.

„Gehe nie in ein Gewerkschaftshaus“

Der Regisseur, Dramaturg, Autor, Freund und künstlerischer Leiter des Theaterprojektes, Erich Schaffner, begleitet die WALI schon über 20 Jahre bei ihren Bühnenexperimenten. Hier berichtet er, wie er zur WALI „gekommen“ ist. 

„Irgendwann im vorletzten Sommer des vorigen Jahrtausends hatte ich einen Auftritt bei Verdi. Im Saal des Frankfurter Gewerkschaftshauses sprach mich einer an, der mich von irgendwoher
kannte.

Er sagte etwas, das mit Arbeitslosen und Goethe zu tun hatte, die in Wetzlar zugange seien und ich sei der Geeignete, die Ergebnisse ihrer Beschäftigung, einen Sommer später, vorzutragen.

Ich konnte mir nichts Genaues unter seinen Worten vorstellen, sagte aber zu in der Gewissheit, dass dieser Ankündigung niemals reale Taten folgen würden. Ein Irrtum. Ein halbes Jahr später rief mich ein gewisser Diegel-Kaufmann an und fragte, ob ich zu meinem Wort stehe, sie seien jetzt soweit und hätten, in einjähriger Arbeit, etliches von Goethe zusammengetragen, das besagtem Sommer, zu  Goethes 250. Geburtstag, solle im Lottehof zu Wetzlar von den Arbeitslosen eine Feier mit Kultur und
Würstchen ausgerichtet werden.

Ich hatte dummerweise mein Wort gegeben und saß somit in der Tinte. Denn ich wusste von und
über Goethe nicht mehr als die meisten anderen. Also war ich gezwungen, zu lesen, Lieder zu hören, Noten zu suchen und mir selber einen Überblick zu verschaffen über diesen Frankfurter Bürgerssohn, der auch ein Fürstenknecht gewesen sein soll.

Wenn ich meinen Freunden und Bekannten erzählte, schüttelten die den Kopf: Arbeitslose beschäftigen sich ein Jahr lang mit Goethe…? 

Es war aber wahr, und was die Wetzlarer zutage förderten, hatte es in sich. Von diesem Winkel hatte
den alten Recken noch kaum jemand betrachtet: Des Menschen erste Bestimmung ist Tätigkeit!“,
war Goethes Maxime. Jahre später wurde ein Experte im Frankfurter Goethehaus heftig als bahnbrechender Neuerer heftig beklatscht, als er diese Seite von Goethes Ansichten zu Gehör
brachte.

Dann trugen der Pianist Georg Klemp und ich die Früchte der Arbeit der Erwerbslosen und unserer
eigenen im Lottehof vor und die Presse feierte die Zusammenarbeit.

Das war der Stachel, der mich weiter in Wetzlar hielt: eine Zusammenarbeit im Wortsinne war das nun nach meinem Geschmack noch nicht gewesen. Das wäre doch eine gemeinsame Erarbeitung und auch Darstellung. So wollte ich dem Titel zur vollen Geltung verhelfen und mit den Leuten der ersten Gruppe direkt ein neues Werk erarbeiten.

Meine damaligen Vorbehalte, mit Laien zu spielen legte ich beiseite. Ich hatte eigentlich selbst noch von erfahreneren Kolleginnen und Kollegen lernen wollen. Entschädigt wurde ich durch die vielen angenehmen Erlebnisse mit lieben Menschen, die sich nicht vom Konkurrenzdenken haben beeinflussen lassen.

So wuchs eine Gruppe, die im Lauf der 20 Jahre eine passable Qualität und mehr und mehr Erfolge
erzielte. Gespielt haben wir Szenen von Goethe, Heine, Büchner, Kraus, Becher, Brecht und eigene Werke. Zum Beispiel über den falschen Kaiser Tile Kolup, der in Wetzlar als Ketzer verbrannt worden war.

Wenn Du in den Betrieben der „Leistungsträger“ vorankommen willst, gehe nicht in ein
Gewerkschaftshaus! gez. Erich Schaffner